Ein Amoklauf als Idyll. Über einen sonderbaren Text aus Carl Einsteins handschriftlichem Nachlass.
Ein kurzer Text, der auf eine Seite passt, dazu der Beginn einer Transkription mit der Schreibmaschine, die nach wenigen Zeilen abbricht – womöglich, um dieses kurze „Idyll“, wie er es selbst in der Überschrift nennt, für die Veröffentlichung in einer Zeitschrift vorzubereiten. Worum geht es? Um den „Komis Meyer“, einen Mann, der offenbar in seinem bisherigen Leben nie aufgefallen ist, nie viel Resonanz erfahren hat und nun die ärztliche Mitteilung erhalten hat, nur noch zwölf Stunden Lebenszeit vor sich zu haben. Schon dieser Umstand wirft Fragen auf: Eine akute Erkrankung kann noch so weit fortgeschritten sein, eine derart präzise zeitliche Prognose wäre allenfalls bei einer schweren Vergiftung denkbar. Hier scheint es mehr um den dramaturgischen Effekt zu gehen, die Eingangssituation wirkt eher expressionistisch überhöht als realistisch – und passt so in die Nähe zum frühen „Bebuquin“-Roman. Vermutlich ist das Blatt früh, zwischen 1905 und 1912 verfasst worden. Was macht nun der Meyer, nachdem er weiß, dass er sterben wird – kein Angehöriger wird Notiz davon nehmen, auch nicht die Firma, bei der er seit einem Jahr nicht mehr arbeitet? Nun, er kauft sich (ziemlich problemlos) einen Revolver, geht durch die Straßen und ersticht in Hauseingängen zunächst ein paar Kinder. Dann geht er in sein Stammbordell, erdrosselt die Wirtin, „schechtet“, also ersticht fünf Prostituierte, wirft die letzte der Polizei vor die Füße, erschießt zwei der Polizisten und lässt sich vom dritten mit der Droschke ins Gefängnis bringen. Er stirbt befriedigt, nachdem er in der Zeitung von seinem Amoklauf liest, aber sein Wunsch, mit seinen Opfern bestattet zu werden, wird nicht erfüllt.
Dieser Text steht im Werk Einsteins ziemlich allein da. Zum einen erinnert er an die Geschichten über die Serienmörder und Lustmörder, die zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts bis in die Weimarer Republik die Öffentlichkeit in Atem hielten. Einer der bekanntesten Mörder war sicherlich Fritz Haarmann, der mehr als zwanzig Morde in den 1920er Jahren beging. Die Literaturgeschichte jener Zeit kennt unzählige literarische Beispiele, wo echte oder erfundene Taten in Szene gesetzt wurden, Hania Siebenpfeiffers Dissertation „Böse Lust“ (2005) ist dem nachgegangen. Hier reiht sich Einsteins kleiner Text ein, lässt sich aber auch als ergänzende Fingerübung zum bereits genannten „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“ lesen: Ganz realistisch ist die Geschichte nicht, das Motiv des Bordells und der Prostituierten kennen wir aus seinem die Leserinnen und Leser bis heute verwirrenden Kleinroman. Aber in einer Hinsicht ist der kurze Text ganz aktuell: Unser Komis Meyer wünscht sich seine 15 Minuten des Ruhms, um nicht „klanglos in den Orkus“ hinabzufahren (Schiller), um es am Ende wenigstens doch noch schriftlich zu bekommen, dass er gelebt hat. Dafür sind ihm die radikalsten Mittel nur recht. So ist dies ganz nebenbei ein kleiner Beitrag zum Thema Aufmerksamkeitsökonomie im Medienzeitalter – und Medienkritik findet sich wiederum an zahlreichen Stellen in Einsteins vielfältigem Werk.
Bildquelle: https://archiv.adk.de/bigobjekt/7062
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